Monat 3

Dein Aquarium ist leer. Die Monitore schwarz. Kein einziges Geräusch durchzuckt den kalten Raum. Die Schatten an den Wänden bedeutungslos. Starr.
Du liegst fest in Tücher gezurrt, unfähig zur geringsten Bewegung, in deinem Bettchen. Deine Welt hat sich in ein schreiendes Universum verwandelt. Deine Glieder ersehnen Bewegung, der Schmerz zieht und zerrt mit aller Wucht daran und lässt deine flachsigen Muskeln erzittern. Unaufhörlich. Du bist auf Entzug.
Ein mumifizierter Drogenabhängiger.
An dem Eigelb der Wände kleben Poster von glücklicheren Menschen in deinem Alter. Liebliche Geschöpfe in bunten Schmetterlingskostümen. Kleine, über sperrige Holzplanken kriechende Schnecken, schlafende Bienen; zusammengekauert auf geschlossenen Knospen. Grienende Seerosen. Lallender Blumenkohl. Aus Plastikeimern lachende, mit Rosen bestückte Kulleräuglein. In die Welt staunende Sonnenblumen in Tontöpfen.
Du bist die stinkende, dürre Raupe in ihrem Kokon. Ein schwitzendes, schlafloses Bündel in Blutrotem Mohn.
Eine Frau in weis schreibt eine zwei in ihre Checkliste.
Eine andere sagt: Der arme Kerl wird sein Leben lang humpeln.
Toll, ganz toll.
Ein verkrüppelter, namenloser Scheißer. Mit dem Kreuz des Vorurteils geschlagen.
In deiner Zeit als Taucher in deinem Aquarium, von Maschinen beatmet, dein Organismus mit Schmerzmittel durchgespült, hättest du den Morphinentzug nicht mitbekommen. Als Exjunkie setzen sie dich auf Therapie. Alles nur ein guter Deal. A Methadon a day keeps the Heroin away.
Die Frau an deinem Bettende kritzelt eine abgehackte drei in ihre Checkliste.
Sie sagt: Es hätte schlimmer kommen können.
Die Skala auf ihrer Liste reicht von eins bis neun. Eine Skala für jedes Entzugssymptom. In diesem Fall bedeutet die eins geringes schwitzen. Du schwitzt wie eine neun.
Die andere Frau sieht dich gläsern an und sagt: Sie haben sie unter einer Werbetafel begraben.
Du fragst dich, ob dein brüllender Bettnachbar ebenfalls auf Entzug gesetzt wurde. Warum der Schatten an seinem Bett lehnt. Die Arme an der Brust verschränkt. Den Cowboyhut tief in die Stirn gezogen. Die Fußknöchel über kreuz. Sein Blick unablässig auf dich fixiert.
Du fragst dich, ob die ganze Welt auf Entzug gesetzt wurde.
Die Frau schmiert zittrig eine Zahl auf ihre Liste. Die vier.
Für deine Krämpfe hättest du dir eine acht verdient.
Die Frau mit den leeren Augen sagt: Sie haben sie zerfetzt.
Sie flüstert: Ihre Körper im Stiegenhaus verteilt.
Unter deinem Bett dürfte sich die Erdachse befinden. Die verglaste Öffnung durch die funkelnde Sonnenstrahlen knallen um darin winzige Staubpartikel tanzen zu lassen, wandert um dich herum. Wie das kleine Tischchen davor. Der Blumenstrauß darauf. Die orange wankenden Plastiksessel. Die schreienden Betten gegenüber. Verzerrte Gesichter wirbeln um dich herum. Dämonen.
Das Laken auf deinem Polster riecht sauer nach Erbrochenem. Dem Inhalt deines kleinen Magens. Speichel tropft dir aus dem Mund und hinterlässt einen nassen Fleck hinter deinem Ohr.
Die Frau mit der Checkliste drückt nervös mit dem Daumen die Mine des Kugelschreibers rein und raus. Klickklack. Klickklack. Rein. Raus. Rein. Raus. Dann entschließt sie sich zu einer neun.
In ihrer Sprache bedeutet das, du hast einen guten Schlaf. In deiner Sprache heißt das, sie ist ein verblödetes, sadistisches Miststück.
Die Frau mit den leblosen Augen sagt: Selbst im Keller fanden sie noch Körperteile. Ein Bein zwischen den abgestellten Fahrrädern. Einen zerfleischten Rumpf aus dem die Gedärme hingen auf den Treppen zum ersten Stock. Einen Schädel ohne Augen und abgebissenen Ohren vor dem Lift im dritten. Schrecklich, nicht?
Die Frau sieht dich an und fragt: Wie kann man so etwas übers Herz bringen?
Die Wände des Treppenhauses sind mit Graffiti beschmiert. Die Kunst der Unterschicht, das Geschmiere der Verlassenen und Perversen. Infostände der Hauseigenen Pornoindustrie. Blowjobs bekommst du in der vierten Etage. Tür dreizehn. Frag nach Camille. Fesselspiele ein Stockwerk darunter. Um Terminabsprache wird gebeten, siehe Telefonnummer anbei. In roter Schrift wird für Pissspiele geworben. Selber Stock, Tür 21. Gefesselt und geschlagen wirst du im achten Obergeschoss. Mathilde erledigt das. Alexandre und Quentin ficken dich in den Arsch. Nathan und Enzo Scheißen auf dich.
Vor Tür sieben im zweiten Stock liegt ein brauner Jutesack. Die Tür ist aufgebrochen. Holzsplitter kleben in der eingetrockneten Blutspur die knapp davor endet. Die zerfetzten Reste eines gelben Absperrbandes flattern vom Türstock.
Klickklack. Klickklack. Rein. Raus. Rein. Raus.
Eine fünf in der Checkliste bedeutet diesmal, dass du dich ruhig verhältst. Nicht um dich schlägst oder strampelst. Vergiss nicht, du bist in Tücher gewickelt, du kleiner stinkender Kokon.
Die Frau mit den bleiernen Augen zischt: Auch wenn er den kleinen gerettet hat, so etwas macht man nicht.
Sie sagt: Diese kleinen jungen Dinger.
Deine Glieder behaupten, du seist in eine Streckmaschine gespannt, dein Herz tobt sich wild pulsierend direkt in deinen Schläfen aus, und trotz mehrerer Lagen dicker Baumwolltücher frierst du plötzlich. Die Welt befindet sich im Schleudergang, taucht das Zimmer in ein Meer aus Linien. Nur der Schatten bewegt sich nicht, starrt dich unentwegt an. Lässt dich nicht aus den Augen.
Als die beiden Toten aus Wohnung sieben geschleppt wurden, rollte der Krankenwagen bereits gemächlich durch die spärlichen Ausläufer der Rush hour. Das Blaulicht abgeschaltet. Spiegelnde Reflexionen der Straßenlaternen am Lack. Keiner klammerte sich an der Hoffnung, du könntest überleben. Für die Sanitäter warst du niemals am Leben.
Du denkst: Wie man sich doch täuschen kann.
Die Toten hatten eines gemein: Ihren eingeschlagenen Schädel. Der Unterschied bestand nur darin, dass in einem der Beiden noch ein Beil steckte. Der Hölzerne Schafft in der Mitte zersplittert. Sein einstiger Besitzer behauptete den Uniformierten gegenüber, er hätte nicht anders handeln können. Er hätte den Mann gewarnt. Ihn gebeten, nicht auf dich einzuschlagen. Der Mann wäre von Sinnen gewesen, angefeuert von dieser Verrückten. Deiner Mutter.
Dein vermeintlicher Retter, dieses zitternde, die Worte stotternd in den Rauch seiner Zigarette schleudernde, erbärmliche Pack. Dieses kahlköpfige, Blutbesudelte, an der Wand lehnende Arschloch behauptete, diese Frau wäre auf dem zerschlissenen Sofa gehockt, nackt, und hätte unaufhörlich gelacht. Wäre Tobsüchtig geworden. Dieser Lügner behauptete, sie hätte dabei ihre eigene Plazenta verspeist.
Die nervöse Frau mit der Checkliste schreibt eine drei.
Diesmal bedeutet das, du zeigst kein auffälliges Merkmal für Übelkeit.
Der Schatten grinst.
Die Frau mit den ausdruckslosen Augen sagt: Wie kann man so etwas nur machen.
Sie sagt: Das ist doch unmenschlich.
Die Stimmen klingen jetzt wie aus weiter ferne, zähflüssige Silben, durch die Luft wirbelnde Konsonanten und lang gezogene Vokale. Die Umgebung außerhalb des Fensters verschmilzt zu einem Klangbrei. Sirenen jagen durch das Zimmer, an deinem Bett vorbei. Das Einschlagen von hektisch laufenden Absätzen an deinem Plafond. Ein Hubschrauber landet auf dem Bett neben dir, ein Arzt springt fieberhaft aus seinem Bauch, fetzt dir die Tücher vom Leib um mit seinem Kugelschreiber eine Zahl in deinen Schweißnassen Bauch zu stechen. Klickklack. Klickklack. Rein. Raus. Rein. Raus.
Das rhythmische surren des Klimaanlage schwingt ins unermessliche. Zerfetzt die Realität. Ein Schwarm zahnlos grinsender Babys in Bienenkostümen verharrt unreale Augenblicke über deinem Bett, um sich, den gigantisch funkelnden Stachel voran, auf dich zu stürzen. Du öffnest deinen trockenen Mund; aus deinem Mund stürzt nur ein Schwall sauerer Galle. Unverdauter Schmerz.
Der Schatten steht an deinem Bett, eine Hand tief in den Taschen seiner Hose vergraben, mit der anderen streicht er über deinen ruhig gestellten Körper. Woher kennst du ihn?
Seine Handflächen an deinen Beinen nasskalt wie Schnee im Frühling, schmelzen an deiner gebrochenen Hüfte, überschwemmen deinen Bauch, eine Flutwelle rast über dein Gesicht und verwirbelt Haarsträhnen. Du versinkst. Tauchst ab auf den Grund deiner unentdeckten Wirklichkeit. Ohne die Lippen zu bewegen stellt er dir eine Botschaft in dein halluzinogenes Gehirn.
Seine Stimme klingt tief, klar und vertraut, wickelt sich an den Rand jeder einzelnen Zelle deines Körpers, strömt durch Blutbahnen, durch dein Schockgefrorenes Herz, deine zugeschnürte Luftröhre; blitzt kurz im Wasser deiner Augen auf.
Ein Wimpernschlag.
Der Klang all deiner vergangenen Existenzen. All deiner bisherigen Leben. Du solltest dich nicht daran erinnern, das war der Plan. Du dürftest nicht mehr hier sein. Nicht schon wieder. Nicht noch einmal.
Die Stimme hat keinen Ton, keinen Klang. Monotone Worte ohne Harmonie legen sich farblos in deine Mitwahrnehmung. Du verspürst keine Angst. Keine Liebe. Fühlst nichts.
Deine Schläfen sind taub und Gefühllos und kalt. Deine Pupillen riesig und unnachgiebig an die unendlich ferne Decke gerichtet. Die Lider weit aufgerissen. Dein Herz schlägt nicht.
Deine Atmung nichts mehr als ein zarter Hauch.
Du denkst: Der Tod fühlt sich besser an.
Die Stimme sagt: He Mann, solltest es besser wissen. Der Mistkerl ist ein sarkastischer Stümper. Ein Dilettant. Banause. Kleinbürgerlicher Ignorant. Nenn ihn wie du willst, spielt doch sowieso keine Rolle. Hast es gesehen. Wärst ja wohl nicht hier wenn er noch’n bisschen Spaß an seine Job haben würde.
Ich bin hier.
Sie sagt: Wir sind hier.
Du denkst: Beweis erbracht. Für den Tod redet er zuviel, das weist du aus Erfahrung.
Tief in dir grinst eine Stimme: Dein Sinn für Humor hat mir schon immer gefallen.
Wer ich bin?
Wirst du noch früh genug erfahren. Jetzt bleib cool und Atme! Wär doch zu blöd, wenn wir uns hier verplaudern. Wenn ICH dich dadurch auf dem Gewissen hätte … und bevor ich’s vergesse: Wie war’s beim letzten mal?
Sie sagt: Hab mich totgelacht als sie dich gebraten haben. Totgelacht! Verstehst du? Ist doch zu komisch, nicht?
Mit einem Schlag ist die Kälte in deinen Organen weg. Dein Herz versucht die entgangenen Schläge wieder wettzumachen, dass Vakuum deiner Lunge füllt sich, und in dem Sog schwimmst du wieder an die Oberfläche. Der Sauerstoffhammer schmeckt nach oxidiertem Metal und dem durchsichtigem Plastik das dir jemand an den Mund presst.
Eine dunkle Stimme, dein Arzt, leuchtet dir mit etwas in die Augen und sagt: Nur damit du es weist, ich mag dich nicht.
Mal ehrlich: Wenn interessiert das noch?
Die Frau mit dem lieblosen Blick wickelt dich in deine Tücher, damit du wieder eine kleine, Drogensüchtige Raupe sein kannst. Dein bemitleidenswerter, zerstörter, niedlicher Körper mit einer frischen Dosis Barbitursäure durchspült. Das Morphium für die kleinsten unter den kleinen.
Sie sagt: Sie fanden einen Hund in einem Kinderwagen der im Stiegenhaus stand. Die Beine mit frischer Erde beschmiert, zusammengerollt und knurrend nagte er an zwei Beinen herum. Die Nase des Babys hatte er schon abgenagt, sein Gesicht völlig zerfleischt.
Die Frau mit der Checkliste überlegt kurz. - Klickklack. Klickklack. Rein. Raus. Rein. Raus. – dann korrigiert sie die falsche fünf darauf und schreibt stattdessen eine neun. Diesmal bedeutet das, dass du absolut ruhig bist. Nicht strampelst oder schreist oder ein erstes grinsen versuchst oder lallst oder dich umsiehst oder zwinkerst oder nach dem erstbesten schnappst das dir in deine kleine Faust kommt. In deine klitzekleinen Fingerchen.
Du zeigst nicht die geringste Regung.
Auf der Wand hinter dem Kinderwagen stand in roter, zittriger Schrift: Helft mir!
Dein Arzt sagt: Du kannst leben und sie musste sterben.
Eine Menschentraube hinter Absperrbändern beobachtete zwei Hunde die an einem Rauchenden Kahlkopf und einer zierlichen Uniformierten vorbei, ins Stiegenhaus jagten. Die Vorderläufe beschmiert mit frischer Erde. In den Mäulern flauschig zerfetzte Katzenkörper.
Er sagt: Sie wollte nur diese verdammten Blumen an das Grab ihres Vaters bringen.
Und der Schatten grinst.
chris0101 - 9. Aug, 17:06

Stand: Monat für Monat

Hier mal eine Massage für jene verlorene Seele, die sich tatsächlich auf dieser Site verloren, und es doch tatsächlich bis hierher geschafft hat. Ich weis, dass Leben kann unerbittlich freudlos, langweilig und ermüdend sein, da nimmt man es schon mal in kauf, apathisch etwas so merkwürdiges zu tun wie … lesen.
Was auch immer. Oder besser: Wie auch immer.

Bei diesem Projekt (Alle Monate bisher inbegriffen!) handelt es sich um den bisherigen, unkorrigierten, trockenen Stoff einer Idee. Besser: Einer Ideenfindung. Da ich selbst nicht den leisesten Schimmer habe wie es weitergehen wird (okay, okay … die Ahnung eines ziemlich abgefahrenen Endes hab ich schon), denke ich, dass es sich lohnen könnte ab und an mal vorbei zu sehen. Für alle Terminfreaks: Es ist mir absolut nicht möglich, auch nur annähernd zu sagen wann der nächste Teil hier veröffentlicht wird. Für alle dies nicht Interessiert: Meine Hoffnung schwankt so bei ein bis zwei.
Zwei was? Wirst du einsame Seele jetzt fragen. Ich sag Kapitel dazu. Nenn es aber wie du willst. Von mir aus Kurzgeschichten. Oder sag: leg dich doch auf die Couch. Wie auch immer.

Auf jeden Fall würde es mich freuen, hier ein paar Kritiken (natürlich auch positive) zu lesen. Oder deine ganz persönlichen Erfahrungen übers schreiben. Ideenfindungen. Psychiatern. Was auch immer.
Also, leg los.

Chris

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